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Das Ei

Das Ei war in wenigen Tagen aus dem warmen Bauch der Henne in ein Ladenregal gelangt. Dort lag es, ziemlich kühl, eingepackt in eine Schachtel aus Pappe zusammen mit neun anderen. Nach drei weiteren Tagen wurde das Ei endlich ins Warme gehoben, die Schachtel wurde geöffnet und Rita schaute mit kritischem Konsumentenblick, ob das Ei und seine neun Geschwister unbeschädigt waren. Rumpelnd ging es im Einkaufswagen zur Kasse. Sie wurden ganz oben in die Tasche gelegt, um nicht von einem Kilo Mehl zerdrückt zu werden. Nebenan lagen Zigaretten, Klebeband, Joghurt, ein Kopf grüner Salat (der den meisten Platz wegnahm) und ein widerlich stinkendes Stück Seife.

Nach kurzer Autofahrt ging es in den Kühlschrank. Dagegen war sogar der Supermarkt ein Paradies gewesen! Nach weiteren zwei Tagen öffnete Rita die Türe und für ein paar Sekunden lag das Ei in ihrer warmen Hand, mit sanftem Druck von allen fünf Fingern umschlossen. Eine spitze Nadel wurde plötzlich grob in das Ei gestochen. Platsch! Und schon wurde es zusammen mit einem anderen Ei in kochend heißes Wasser gelegt. Die schützende Schale verlangsamte die Temperaturzunahme zwar ein wenig, trotzdem wandelte sich allmählich die Flüssigkeit in Feststoffe um.

Da tauchte ein großer silberner Löffel in den Topf und balancierte das Ei und danach seine Schwester in Richtung Wasserhahn. Da erfuhr das Ei, was „abschrecken“ bedeutet. Rita in ihrem rosa Bademantel trug es in einem Gefäß fort, das nur die obere Hälfte freiließ. Ein richtig angenehmes kleines Nest! Das Ei wurde auf den Tisch gestellt. Als ein hutartiges Gebilde aus Wolle darübergestülpt wurde, breitete sich langsam wieder wohlige Wärme aus. Gedämpft aus der Ferne hörte das Ei, wie es zum Gesprächsthema wurde.

Martin: „Das Ei sieht aus, als ob es wie üblich zu hart wäre.“
Rita: „Wie willst du das wissen, es sieht aus wie jedes andere.“
Martin: „Das kommt daher, dass jeder Tag mit dir wie jeder andere ist.“

Nach diesem Satz setzte er das Messer an, schlug die obere Kappe des Eis ab und schaute triumphierend, denn das Ei war tatsächlich hart. Rita nahm nun ihr eigenes Ei und warf es Martin mitten ins Gesicht. Das kam so überraschend, dass er nicht schützend abwehren konnte und fürchtete, sein Nasenbein sei gebrochen. Doch verblüffender Weise war das Ei weich! Das Gelbe tropfte schnell aufs Hemd herunter, während das Weiße klebrig Richtung Kinn floss. Martin stürzte aus der Wohnung, Rita hinterher.

Das Zweidrittelei lag noch lange auf dem Tisch. Irgendwann kam Rita zurück, warf es in den Abfallsack und überließ es den knirschenden Zähnen des Müllfahrzeugs.

Martin meldete sich nie wieder…

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