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Der Zahn

Es lag sich bequem in dem heruntergeklappten Sessel. Niemand war im Raum, denn es war die Wartezeit auf die Wirkung der Spritze. Die Operation stand kurz bevor. Aus dem Nebenzimmer waren regelmäßige Bohrgeräusche zu hören. Unten auf der Straße schrillte eine Polizeisirene. Unendlich weit weg. Es ging zwar nicht um den Verlust eines unentbehrlichen inneren Organs, sondern nur um den siebten Zahn. Trotzdem war es ein Abschied, wie wenn ein Freund für immer von einem geht.

Schon ging die Tür auf und der Herr Doktor kam zielstrebig und Sicherheit ausstrahlend zu seinem Instrumententisch und nahm die gefürchtete Zange hervor. Von der anderen Seite war das Gesicht der Helferin zu sehen, die mit dem Absauggerät bereitstand. Von Mullbinden umzingelt wie auf einem Opfertisch! Allerlei Gedanken schießen durchs Hirn. Es beginnt, tief unten im Kiefer zu knirschen, ohne dass es weh tut. Und schon hat ihn die Hand mit dem Latexhandschuh herausgezogen und hält ihn triumphierend vor die Nase des Patienten. Dieser kann zwar nicht sprechen, gibt aber durch einen nach oben gestreckten Daumen zu erkennen: saubere Arbeit! Blut wird weggetupft. Man wird aus dem bequemen Sessel herausgescheucht, bekommt ein paar Tabletten in die Hand gedrückt und begibt sich mit dicker Backe und dem Verlangen nach einer Zigarette in den Straßenverkehr.

Der Freund, auf dem man jahrzehntelang herumgebissen hatte, ruhte kariesgeschädigt und blutverklebt in irgendeinem Abfallbehälter. Wer würde seine Lücke schließen können? Teures Gold vielleicht, rohes Metall im intimsten Mundbereich. Schon Stunden später sah das dunkelrote Loch im Spiegel schon wie Vergangenheit aus. Der Heilungsprozess im Wunderwerk Mensch hatte bereits begonnen. Nur schade, dass man sein Herz nicht ebenso betrachten kann. Das wäre interessant, denn es verheilt viel mühseliger als ein jämmerlicher Zahn.

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