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Die Prophezeiung

1. Kapitel

Robert S. Morgan ging wie im Taumel durch das lärmende Menschengewirr der engen Straßen. Von überall her schrillten ihm immerfort die piepsenden asiatischen Stimmen in den Ohren. Drei Tage war er nun in Nagasaki. Businessman, Geschäfte mit Japan, diesem Volk, das noch disziplinierter nach materiellem Segen strebt als Amerikaner, Deutsche, ja sogar Schweizer.

Als er die Gassen in Richtung Hafen gemächlich durchstreifte, stimmte ihn diese erste Konfrontation mit einer weit entfernten Kultur sehr melancholisch. Immer wieder spürte er ihre Blicke, so wie in Europa oft die Dunkelhäutigen angestarrt werden. Die Menge war vom Reiswein wie entfesselt. Das Kirschblütenfest war in vollem Gange. Robert war froh, endlich die Bucht am Meer erreicht zu haben. Er hatte schon immer den wilden Ozean geliebt und sich vorgestellt, eines Tages von einem Traumhaus tagtäglich auf das Meer herunterzuschauen.

Er stand an der Kaimauer und versuchte zu riechen, ob das Salzwasser des Pazifiks andere Gerüche ausstrahlte als der Atlantik. Diese Frage hatte ihm noch niemand beantworten können. Die endlosen Konferenzen mit lauter identischen Herren fielen ihm ein. Aus stets gleichen Aktenkoffern wurden immer ähnlich klingende Analysen hervorgezogen. Mister Morgan, Boston, USA – wer war er schon, hier und heute Nacht? Nach geraumer Zeit löste er sich aus seinen Träumereien und schlug hastig den Weg in Richtung seiner an der Uferpromenade blinkenden Hotelreklame ein. Er hatte beschlossen, heute den Pazifik nicht mehr anzuschauen.


2. Kapitel

An der Hotelbar angekommen, wo jetzt um 22 Uhr ziemlicher Trubel herrschte – eine Mischung aus Japanern und Ausländern – war Robert S. Morgan klar, dass er noch etliche Whiskys trinken würde. Er taxierte den Raum und die hin- und herwogenden Gestalten. Die Serviererinnen hatten weiß geschminkte Gesichter und wallende Kimonos, aber hochhackige Pumps und grellrote Fingernägel wie westliche Models. Von der Decke herab hingen farbige Tücher mit japanischen Schriftzeichen und dem Symbol der aufgehenden Sonne oder gelegentlich dem Fujijama mit seinem ewig schneebedeckten Gipfel. War der nicht infolge von Umwelteinflüssen auch schon weggeschmolzen? Robert war froh, dass niemand da war, der ihn kannte, keiner der penetranten Geschäftspartner.

Er wandte sich wieder der Bar zu und bestellte einen weiteren Single Malt Scotch. Seine Gedanken kreisten immer schneller. Aus der Entfernung schien ihm sein Leben in den Suburbs von Boston lächerlich unwichtig zu sein. Die gute alte Erde war eben noch die Gleiche geblieben, trotz immer schnellerer Düsenjets. Amerika war so weit weg wie der Mond.

Direkt neben ihm saß eine Frau, deren Verhalten ihm immer merkwürdiger vorkam, je öfter er hinüberschaute. Sie schien nicht den besten Abend erwischt zu haben. Zuerst waren ihm ihre Hände aufgefallen, die ohne Unterbrechung auf der Theke in Bewegung waren, das Glas abtasteten (offensichtlich Gin Tonic) oder eine Zigarette hielten, dann und wann die schwarze Mähne nach hinten über die Schulter wirbelten oder im Rhythmus der sanften Salonmusik auf den Tresen trommelten. Schmale, feingliedrige Finger ohne Schmuck. Er versuchte, anhand der Hände ihr Alter zu erraten, wahrscheinlich Anfang Dreißig. Der Whisky begann zu wirken.

Er sprach sie auf Französisch an. Nur quälend langsam begriff sie und sah ihn aus tiefblauen, aber ausdruckslosen Augen an. Sie antwortete freundlich, wie es sich eben so gehört. Ihm viel nichts Dümmeres ein, als sich vorzustellen. Sie hieß Svenja Cronenberg und war Dänin (mit schwarzen Haaren!). Man versank wieder in Schweigen. Als sie zufällig beide in derselben Sekunde einen neuen Drink bestellten, zeigte sich auf ihrer sentimentalen Maske ganz kurz ein herzerfrischendes Lächeln. Robert hatte nun genug Mut, um zu beschließen, sie ganz direkt auf ihre seltsame Stimmung anzusprechen.


3. Kapitel

Statt einer Antwort schaute sie auf ihre Uhr und sagte in gutem Englisch: „Noch 1 ½ Stunden. Sie reden mit einer Toten. Eine alte Zigeunerin hat es mir vor vielen Jahren in Paris aus der Hand gelesen. Wissen Sie, dass heute der 09.09.1999 ist? Mein 33. Geburtstag. Sicher, es klingt lächerlich für einen logisch denkenden modernen Menschen. Ich habe mir das auch immer wieder gesagt. Doch je näher das Datum kam, desto mehr Probleme kamen auf mich zu, im Beruf, in der Familie, in den eigenen Gedanken. Warum gratulieren Sie mir nicht zum Geburtstag und schauen stattdessen, als ob Sie einen Geist oder eine Irre vor sich hätten? Das ist nun mal das Risiko an einer Hotelbar, wenn man jemanden anquatscht. Ich nehme es Ihnen nicht übel. Ich saß vor Ihnen hier auf dem Barhocker. Vielleicht werden Sie noch sehen, wie ich hier vom Herzschlag getroffen zusammensacke. Prost!“

Sie schaute wieder auf die Uhr. Robert kannte sich nicht wieder, als er sagte: „Sterben Sie doch lieber in meinen Armen!“ Svenja griff in ihre Handtasche, zog einen Geldschein hervor, knallte ihn auf den Tresen und sagte: „461, bis gleich!“ Und schwebte davon durch dieses Szenario einer kitschigen japanischen Ansichtskarte.


4. Kapitel

Ausgelaugt und mit hämmerndem Herzschlag lagen sie im Halbdunkel des Hotelbetts. Jede Pore hatte das Geheimnis ihrer Vereinigung gespeichert. Alles war noch pure Gegenwart. Sie hatte sich hingegeben, als ob es wirklich das letzte Mal gewesen wäre. Sie war auf ihm gelegen, hatte ihn angestachelt und ihm auf dem Höhepunkt die roten Nägel in die Brust gekrallt. Er hatte sich vollkommen mitreißen lassen von diesem Vulkan und keinen Schmerz gespürt, sondern glaubte, in ein schwarzes Loch zu fallen, eine Supernova ohne Wiederkehr.

Svenja schaute erneut auf die Uhr. „Zehn nach Elf, ich lebe noch“, flüsterte sie, immer noch nach Atem ringend. Robert strich sanft über ihr Gesicht und mit der anderen Hand über ihren Rücken. Er wollte nichts sagen, sondern sie nur beruhigen, ihr zeigen wie schön der Moment war, egal, ob es ums Sterben oder sonst welche Probleme ging. Auf einmal war ihr Mund ganz nahe an seinem. Es fiel ihm auf, dass sie sich vorhin vor lauter Erregung gar nicht geküsst hatten. Und ganz vorsichtig wie feindliche Armeen umkreisten ihre Lippen Millimeter um Millimeter Augen, Nase, Mund. Endlich berührten sich ihre Zungenspitzen wie von elektrischen Strömen geleitet. Es war ein langer Kuss, während ihre Körper regungslos verharrten.


5. Kapitel

Draußen zogen die lärmenden Horden immer noch durch die Gassen. Durch die offenen Fenster konnte man selbst hier im 4. Stock das Geschrei hören. Durch die Entfernung war es ein einziger, nie enden wollender Klang. Die Leuchtreklame warf bizarre Schatten an die Zimmerdecke, an der ein Ventilator langsam vor sich hin surrte. Alle Sinnesorgane arbeiteten auf Hochtouren, um den köstlichen Augenblick unsterblich zu machen, zumindest im eigenen Gedächtnis.

Sie lagen nun da und rauchten. Svenja ging es prächtig. Sie dachte kaum mehr ans Sterben. Niemals hätte sie jedoch solch seltsame Dinge ohne die Prophezeiung der Zigeunerin getan. Mit einem wildfremden Mann! Das war sonst nicht ihr Stil. Er war ihr sympathisch, weil er Sicherheit ausstrahlte, eines der vergänglichsten Gefühle. Doch jetzt war es da, hautnah. Sie unterhielten sich mit langsamen Worten, träge und wohlig und schwerelos nach der heftigen Ekstase. Als sie auf die Uhr schauten, war es schon sieben Minuten nach Mitternacht. Der 10. September 1999 hatte unbemerkt begonnen.

Sie waren in eine Art Halbschlaf verfallen, wo man manchmal nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann. Es gibt Träume, die sich selbst durch kurzes Aufwachen nicht stören lassen. Sie gehen weiter, wenn man erneut einschläft. Im Falle von Robert und Svenja war selbst die reale Welt zwischen den Träumen ein Traum. Alles war in Watte getaucht. Robert träumte von endlosen Zugfahrten, zuerst rasant mit modernen Magnetzügen, dann gemächlich mit alten Dampflokomotiven. Als er kurz aufwachte, glaubte er, den Qualm aus dem Traum mit hinübergenommen zu haben. Er tastete nach den Kippen im Aschenbecher und drückte jede noch einmal kräftig aus.


6. Kapitel

Wieder schlief er in ihren weichen Armen ein. Der Zug fuhr in einen Tunnel, und durch die Fenster des Abteils, die nicht schnell genug geschlossen werden konnten, drang der nach Kohle stinkende Wasserdampf herein. Robert schreckte hoch und saß senkrecht im Bett. Man hatte ihn oft wegen seines ausgeprägten Riechorgans verspottet, aber seine Nase erschnupperte oft zielsicher entfernte Gerüche. Er stand auf und öffnete die Tür zum Flur. Hier stank es bereits ziemlich durchdringend. War das denn Wirklichkeit, dachte er. Er machte Licht und konnte kaum mehr die Treppe erkennen. In nächster Nähe sah er einen roten Kasten und schlug Alarm.

Svenja wachte endlich auf. Wenige Worte genügten. Sie stürzten ans Fenster. Draußen war von einem Brand nichts zu sehen und sie beruhigten sich ein wenig. Es war ja schon fast zwei Uhr morgens. Das gab Svenja Mut. Man hörte die Alarmglocken und die Leute auf der Straße starrten nach oben. Robert dachte, dass durch diese engen Gassen von Nagasaki wahrscheinlich nicht einmal ein großes Feuerwehrauto mit Drehleiter fahren konnte. Er schlug vor, die Badewanne vollaufen zu lassen. Mit nassen Betttüchern konnte man die Tür gegen den Qualm isolieren und sich im Notfall gegen die Hitze schützen. Nach und nach hörte man die Schreie, die „Feuer“ bedeuten mussten. Dieses japanische Wort würde Robert niemals vergessen, falls er hier lebend herauskäme.

Svenja erwog einen Durchbruch über das Treppenhaus, aber sie brachen den Versuch nach wenigen Stufen ab. Nach oben zu laufen schien auch nicht mehr Hoffnung zu bieten. Hier in ihrem Zimmer, das noch vor kurzer Zeit von Zufriedenheit erfüllt gewesen war, fühlten sie sich geborgener.

Wie viel Meter mochten es bis nach unten sein? Vielleicht zehn. Zu hoch, um springen zu können. Aus den umliegenden Fenstern lehnten nun die Menschen und verständigten sich laut schreiend. Viele waren völlig in Panik, schrien und weinten. Aus der ersten und zweiten Etage quollen bereits dichte Schwaden aus den Fenstern. Alle paar Sekunden sprang jemand hinunter.

Robert dachte: kein Problem im 1. Stock, ein Armbruch vielleicht aus dem 2., schwerverletzt aus dem 3., aber hier oben im 4……..Das Bettlaken zu zerreißen, aneinander zu knoten und sich abzuseilen schien ihnen zu verwegen.


7. Kapitel

Endlich sah man unten auf der Straße schemenhaft die Feuerwehrleute mit ihren Sprungtüchern. Von oben war das Schrapp-schrapp-schrapp von Hubschraubern zu hören. Die ersten Springer landeten sicher in den Auffangtüchern und winkten, um die Anderen zu ermutigen. Schon versuchten es welche aus der 5. oder sogar 6. Etage. Dann klatschte jemand aufs Pflaster und blieb wie eine Marionette liegen. Es wurde immer stickiger und heißer.

Svenja bestand darauf, Robert solle zuerst springen. Zeit zum Diskutieren war nicht mehr vorhanden. Sie umarmten sich, er sagte: „Bis gleich“, signalisierte den Feuerwehrleuten mit zwei Fingern, dass sie nacheinander springen würden.

Bevor ihn der Verstand und die Angst übermannen konnten, stieß er sich blitzschnell nach vorne ab, mit den Beinen nach unten, die Arme in die Höhe gestreckt. Die paar Sekunden kamen ihm unendlich vor. Er spürte den Luftwiderstand wie eine anprallende Mauer aus weichem Schaumstoff. Sein Leben spielte sich nicht vor seinem inneren Auge ab. Dann lag er auch schon mit einem heftigen, schmerzhaften Ruck im Sprungtuch. Ein paar Prellungen, man zog ihn heraus und beglückwünschte ihn. Sein Blick ging nach oben. Man konnte kaum mehr etwas erkennen. Er hielt die Hände trichterförmig an den Mund und brüllte in einem Urschrei ihren Namen. Immer und immer wieder. Aber sie kam nicht.


8. Kapitel

Mit Gewalt mussten sie ihn wegzerren. Er war in Trance, stand unter Schock. In einem Taxi wurde er in ein anderes Hotel verfrachtet. Nichts würde mehr sein wie vorher. Die Zerbrechlichkeit seines Lebens war ihm in jede Faser gedrungen. In Nagasaki, wo immer noch die vom Reiswein besäuselten Massen unterwegs waren. Könnte er je wieder das beschauliche Familienleben in Boston weiterführen? Die Welt war aus den Fugen geraten!

Er betrat die Lobby des neuen Hotels. Über der Rezeption hingen mehrere Uhren: TOKYO 5 Uhr, NEW YORK 16 Uhr, PARIS 21 Uhr. Da schoss es ihm durch den Kopf: Natürlich, Paris 21 Uhr, die Prophezeiung der Zigeunerin…..In Europa war es ja noch gestern!

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