Wie leergefegt ist die Stadt von der gleißenden Sonne. Der Äquator scheint sich zu uns verlagert zu haben, dort im staubigen Rinnstein hat er seine mörderischen Spuren eingegraben. Die Menschen sitzen unter den assimilierenden und kühlen Sauerstoff spendenden Riesenkronen gewaltiger Laubbäume oder drängeln sich Fleisch an Fleisch in gechlortem Wasser. Nur einer sucht in der explodierenden Hitze ein Ziel. Keinen Hut und keine Sonnenbrille hat er auf, schleppt sich auf der lichtüberfluteten Straße vorwärts. Trotzig lässt er sich den letzten klaren Gedanken aus den Venen saugen. Ab und zu kreuzt ein umnebelter Gedanke die flimmernde Fahrbahn, ein Tropfen Erinnerung bleibt an der aufgeweichten Teermasse kleben und wird von ihr geschluckt.
Der Mensch, der durch das Inferno stolpert, spuckt keine Phrasen aus, nur sich selbst sieht er in den Schaufenstern der Wohlstandskaufhäuser. Verbrennen lassen will er sich von dem einzig fassbaren Gott, der sein Gesicht heute so infernalisch durch die schützende Ozonhülle presst. Seine Gefühle verdampfen mit dem Schweiß. Seine Tränen, die er nicht die Kraft hatte zu weinen, drückt der am Himmel eingravierte Glutball aus den eingetrockneten Augenwinkeln. Vor seinen Augen flimmern die wirbelnden Funken der Illusionen und Hoffnungen. Noch pumpt das Herz die süßlich-rote Masse durch winzige Kanäle, durch Geist und Geschlecht. Noch spürt er das Kitzeln des Urmörders, der sich Tag für Tag um unseren Planeten schleicht, auf der Haut. Aber die Unruhe, die im Zimmer auf und ab ging, dieses fragende Gebilde ohne Anfang und Ende, sie reißt schon nicht mehr so stark an den Nerven.
Der Mann hat die Tore der Stadt erreicht und schlurft durch die Wiesen. Nur noch ein Klumpen ist er, kein Mann, keine Frau, kein Kind, kein Greis. Alles, was von ihm übrig geblieben ist, ist ein Stück Leben. Und die schadenfrohen Zikaden sind sein Kirchenchoral. Da packt ihn eine gewaltige Kraft und er sinkt nieder. Seine Zunge tastet die rostige Erde ab und will zum Mittelpunkt vordringen. Er fühlt sich auf einmal nicht mehr auf der Erde liegend, sondern die Erde auf ihm. Ein einzelner Gedanke keimt in ihm auf, ein einzelner rissiger Fetzen Erinnerung. Damals, als er die weichen Arme der Geliebten spürte, konnte er noch lachen und weinen, weinen und lachen. Als ihn die eisige Kälte der Liebe umwehte, hasste er sie, die Liebe, weil sie so grausam tröstend war. Seine Finger krallen sich im Gras fest, als versuchten sie ein letztes Mal, den Sinn des Lebens aus dem ewig schwangeren Bauch der Erde herauszureißen. Dann verliert er das Bewusstsein und schwimmt durch den Nebel des Nichts, der doch schon wieder Materie ist.
Da erhebt sich plötzlich ein Wind, zuerst nur die glühende Luft hin- und herschiebend, dann auf einmal Sauerstoff einspritzend. Wolken ziehen am Himmel auf, anfangs zaghafte Fetzen, dann schwarze höllische Felder. Die Natur hält den Atem an, die Grillen und die Vögel schweigen. Auf einen Schlag bricht es hervor wie der Hass des Mörders, regnet es wie aus Kanonen, prasselt auf die versengte Landschaft. Der Kelch ist noch einmal vorbeigegangen. Alles atmet und lebt. Seine verklebten Poren öffnen sich bereitwillig einem neuen Erlebnis, einem neuen Anfang. Bald schon wird er wieder Fragen stellen, doch das zählt jetzt nicht. Er wirft alle Kleider von sich und breitet die Arme aus. Er fängt an zu schreien, bestialisch und wild wie seine Urahnen. Dann beschmiert er sich mit Schlamm und dreht sich im Kreis. Sich selbst will er vermischen mit dem Planeten, sein Dasein hat er nun durchschaut. Nur noch Teil einer Notwendigkeit möchte er sein, ein Rädchen, das mit den anderen läuft. Er erkennt, dass er, obwohl Rädchen, ebenso ein Steuermann ist wie eine Blume, ein Hund, eine Ameise. Es macht ihm nichts mehr aus, sein Unwissen ist seine Gewissheit, seine Schwäche die größte Stärke, die er besitzt.
Nicht an morgen und gestern denkt er, als er in die Kneipe geht und einen Schnaps nach dem anderen schluckt. Kein Gefühl der Angst und Ruhelosigkeit will er betäuben, nur seine Freude auskosten, sich hingeben dem Pulsschlag der Zuversicht. Bald wird er Asche sein oder wieder Mensch oder gar nichts, doch jetzt ist er freigewordene Energie, reißt andere mit auf seine Bahn, legt das Gleis für den Zug, der ihn und alle die mitwollen auf den Bahnhof der Selbstverwirklichung führen wird.
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