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Jean-Paul Sartre - DER EKEL (1938)

Wenn man lebt, passiert nichts. Die Szenerie wechselt, Leute kommen und gehen, das ist alles. Es gibt nie Anfänge. Ein Tag folgt dem anderen, ohne Sinn und Verstand, ein unaufhörliches, eintöniges Aneinanderreihen. Von Zeit zu Zeit macht man eine Teilbilanz, man sagt: jetzt bin ich seit drei Jahren auf Reisen, jetzt lebe ich seit drei Jahren in Bouville. Es gibt auch kein Ende: man verlässt eine Frau, einen Freund, eine Stadt nie mit einemmal. Und außerdem sieht sich alles ähnlich: Shanghai, Moskau, Algier, nach zwei Wochen ist alles gleich. Dann und wann – selten – zieht man Bilanz, man wird sich bewusst, dass man an einer Frau hängengeblieben ist, dass man in eine schmutzige Geschichte verwickelt ist. Eine blitzartige Erleuchtung. Dann fängt der Regen wieder an, man macht sich wieder daran, Stunden und Tage aneinanderzureihen. Montag, Dienstag, Mittwoch, April, Mai, Juni. 1924, 1925, 1926.

Etwas beginnt, um zu enden: das Abenteuer lässt sich nicht verlängern; nur durch seinen Tod hat es einen Sinn. Auf diesen Tod, der vielleicht auch mein eigener sein wird, werde ich unwiderruflich hingetrieben. Jeder Augenblick kommt nur, um die folgenden nach sich zu ziehen. An jedem Augenblick hänge ich mit ganzem Herzen: ich weiß, dass er einmalig ist, unersetzlich ist – und trotzdem würde ich keine einzige Geste machen, um zu verhindern, dass er vergeht. Diese Minute, die ich leidenschaftlich liebe, sie wird gleich zu Ende gehen, ich weiß es. Bald werde ich aufbrechen, in ein anderes Land. Ich werde weder diese Frau noch diese Nacht jemals wiederfinden. Ich beuge mich über jede Sekunde, ich versuche, sie auszuschöpfen; nichts geschieht, was ich nicht aufnehme, was ich nicht für immer in mir festhalte, nichts, weder die flüchtige Zärtlichkeit dieser schönen Augen, noch die Geräusche der Straße, noch das Zwielicht des frühen Morgens: und unterdessen verrinnt die Minute, und ich halte sie nicht auf, ich liebe es, dass sie vergeht!

Ich sah mich beklommen um: Gegenwart, nichts als Gegenwart. Leichte und haltbare Möbel, in ihrer Gegenwart befangen, ein Tisch, ein Bett, ein Spiegelschrank – und ich selbst. Die wahre Natur der Gegenwart enthüllte sich: sie war das, was existierte, und alles, was nicht Gegenwart war, existierte nicht. Die Vergangenheit existierte nicht. Überhaupt nicht. Weder in den Dingen noch in meinem Denken. Sicher, seit langem hatte ich begriffen, dass meine mir entglitten war. Aber ich dachte bisher, dass sie sich lediglich aus meiner Reichweite zurückgezogen hatte. Für mich war die Vergangenheit nur eine Versetzung in den Ruhestand: es war eine andere Art zu existieren, ein Zustand von Ferien und Untätigkeit; jedes Ereignis ordnete sich, wenn seine Rolle zu Ende gegangen war, brav, von selbst in eine Schachtel und wurde zum Ehrenereignis: so viel Mühe hat man, sich das Nichts vorzustellen. Jetzt wusste ich: die Dinge sind ganz und gar das, was sie scheinen – und hinter ihnen….ist nichts!

Habe ich sie geträumt, diese ungeheure Gegenwart? Sie war da, lag auf diesem Park, war in diese Bäume gepurzelt, ganz wabbelig, alles verschmierend, ganz dickflüssig, eine Konfitüre. Und ich war darin, ich, mit dem ganzen Park? Ich hatte Angst, aber ich war vor allem wütend, ich fand das so dumm, so fehl am Platz, ich hasste diese widerliche Marmelade. Es gab noch und noch davon! Das stieg bis zum Himmel, das lief überallhin aus, das erfüllte alles mit seinem glitschigen Niederschlag, und ich sah seine endlosen Weiten, viel weiter als die Grenzen des Parks und als die Häuser und als Bouville, ich war nicht mehr in Bouville, ich war nirgendwo, ich trieb dahin. Ich war nicht überrascht, ich wusste wohl, dass das die Welt war, die nackte Welt, die sich auf einmal zeigte, und ich erstickte vor Wut auf dieses dicke, absurde Sein. Man konnte sich nicht einmal fragen, wo das herauskam, das alles, noch wie es kam, dass eine Welt existierte als vielmehr nichts. Das hatte keinen Sinn, die Welt war überall gegenwärtig, vorne, hinten. Es hatte nichts vor ihr gegeben, in dem sie nicht hätte existieren können. Genau das ärgerte mich: selbstverständlich gab es keinen Grund, dass sie existierte, diese quallige Larve. Aber es war nicht möglich, dass sie nicht existierte. Das war undenkbar: um sich das Nichts vorzustellen, musste man schon da sein, mitten in der Welt, und die Augen weit offen haben und leben; das Nichts, das war nur eine Idee in meinem Kopf, eine existierende Idee, die in dieser Unermesslichkeit schwebte: dieses Nichts war nicht vor der Existenz gekommen, es war eine Existenz wie jede andere und war nach vielen anderen erschienen. Ich schrie: “Was für eine Sauerei, was für eine Sauerei!“ Und ich schüttelte mich, um diese Sauerei loszuwerden, aber sie hielt, und es gab so viel davon, Tonnen und Tonnen von Existenz, unbegrenzt: ich erstickte mitten in diesem unermesslichen Überdruss.

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