Sie hatte sofort seine faszinierenden Hände bemerkt, obwohl er ganz entfernt in einer Ecke des Saales saß, umringt von anderen Leuten. Seit ihrer frühen Kindheit beherrschte sie die Sprache der Taubstummen und war deshalb umso überraschter, wie virtuos er neue Kombinationen durch blitzschnelle Bewegungen seiner Finger hervorzauberte. Er schien die Begabung zu haben, in diese auf den ersten Blick so nüchterne Ausdrucks- weise Witz, Ironie und Philosophie hineinbringen zu können.
Sie konnte ihren Blick nicht von seinen Händen abwenden, nahm kaum sein Gesicht, die Kleidung und alles Andere wahr. Wie von einem Magneten angezogen ging sie langsam auf den Tisch zu, quer durch den Raum, wie eine Schlafwandlerin. Jemand, der den Gehörsinn hat, fühlt sich vielleicht vom Klang einer Stimme angezogen, aber hier waren es Hände und Finger, die unendliche Geschichten erzählten. Im Moment ging es um Fremdsprachen, die er genauso gut zu beherrschen schien und immer wieder bruchstückhaft in seinen stummen und doch so aussagekräftigen Monolog einbaute.
Endlich stand sie vor ihm und wagte, als er kurz aufschaute, sogar einen Einsatz ihrer eigenen Hände. Sie „buchstabierte“ ihren Namen, damit man ihn richtig „aussprechen“ konnte. Woher war ihr diese grandiose Idee gekommen? Sofort entspann sich ein angeregter Dialog zwischen ihnen. In der Nacht, als sie neben ihm lag und die Augen geschlossen hatte, schrieb er Symbole der Liebe auf ihre Haut, auf Arme, Bauch und Rücken. Sie wusste: dieser Mann würde sie nie anschreien, nie das Telefon benutzen, wenn es einmal zu Ende wäre. Im Dunkeln konnten sie ihre Hände anfassen und so Botschaften übermitteln. Welch eine herrliche Welt hatte sich da aufgetan! Keiner der anderen Menschen, die doch mit mehr Sinnesorganen ausgestattet waren, konnte auch nur annähernd nachvollziehen, auf welcher Ebene sich hier zwei Wesen gefunden hatten.
Nach Jahren traf ich sie wieder, und nun hatte es den Anschein, als ob sie nur noch mit den Augen sprechen würden...
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