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Skandal im Bus

Schon als ich den Bus betrat, spürte ich, wie sich die Blicke der Insassen an mir festhefteten, so wie jeder anvisiert wird, der neu zusteigt. Es ist der Einzelne in der Masse, der sich gegenüber dem neu Hinzukommenden stark fühlt. Er weiß um seinen Vorteil, will sich gleichsam dafür entschädigen, dass man ihn selbst beim Einsteigen ebenso gemustert hat. Für die weniger Selbstsicheren, Ängstlichen und Verschüchterten mag das wie Spießrutenlaufen sein. Schnell setzen sie sich auf einen der nächstbesten freien Plätze, um somit ihrerseits in der Menge unterzutauchen und sich nun gleichfalls geeignete Objekte der Betrachtung herauszupicken. Wieder andere laufen schnell und mit zusammengebissenen Zähnen durch das Heer der spitzen Blicke, durchstoßen den Wall und begeben sich auf die hinteren Plätze, weil sie dort mehr sehen und ihnen von den scheinbar so wichtigen Vorgängen im Omnibus nichts entgehen kann.

Ich hingegen spüre die Blicke auf mir mit Amüsement, lache in mich hinein, wenn ich daran denke, dass mir vielleicht am Hemd ein Knopf fehlt oder die Farbe meiner Socken nicht zur Hose passen mag, und dass ich damit einem dieser Einfaltspinsel, denen das Leben nichts bietet außer jenen kleinen Abwechslungen der Kritik an Anderen, einen inneren Schrei der Empörung entlocke. Doch es reizt mich, ihre eigentliche Schwäche zu spüren, das Wissen um die eigene Unvollkommenheit und der verzweifelte Versuch, ständig korrekt zu wirken. Also greife ich mir wahllos einen heraus, fixiere ihn und stelle befriedigt fest, dass er meinen messerscharfen Blicken nur wenige Sekundenbruchteile standhält, weil er merkt, dass ihm Widerstand geboten wird und dass nunmehr er selbst das Objekt der Betrachtung ist.

Eine seltsame Meute ist das. In dieser zusammengewürfelten Gesellschaft sensationshungriger Allerweltsmenschen scheint sich nichts mehr zu bewegen als die Augen, seltsamer Ausdruck von Neugier, Misstrauen, Neid und Angst. Bedauernswerte Produkte einer Normengesellschaft, deren Leben so wenig Abwechslung verspricht, dass sie sich gierig an Kleinigkeiten aufhalten, um sie gefräßig als Gesprächsstoff zu verwenden.

Ein junges Mädchen, eigentlich hübsch und reizvoll, aber falsch erzogen und verklemmt. Eigentlich möchte sie ausbrechen aus ihrer kleinen Welt, Bürokraft, sich nicht länger damit aufhalten, die äußere Schale nach den Maßstäben dieser plumpen trägen Masse auszurichten. Eine biedere Hausfrau, für die es nichts Erhabeneres gibt als die Ordnung, die Ruhe und die Sauberkeit. Dauernd ermahnt sie ihr Kind, ruhig zu sein und nicht hin- und herzulaufen, wobei ihr Blick nach jeder Rüge die Umhersitzenden streift und nach Zustimmung heischt. Sie fühlt das wacklige Gebäude ihrer erzieherischen Maßnahmen schwanken und versucht, sich an Anderen zu stützen, indem ihr deren Zustimmung die nötige Sicherheit gibt. Es mutet wie ein einziges Wackeln, ein Zerfließen von Normen an, die so krampfhaft geformt wurden, dass sie beim geringsten Widerstand zu zerbrechen drohen.

Weiter hinten steht noch ein älterer Herr und liest Zeitung, nicht ohne jedoch alle paar Sekunden über den Rand hinweg auf zwei Schuljungen zu blicken, deren Sitzplatz er wohl gerne hätte, sich aber nicht traut, sie laut auf die Berechtigung seines Anliegens hinzuweisen, weil nämlich dann schlagartig die meisten Blicke an ihm haften würden, und das will er nun doch nicht riskieren. Gleich daneben eine Dame mittleren Alters, die gierig ihren welkenden Körper zur Schau trägt und jeden Blick, der auf ihren Ausschnitt oder ihre Schenkel fällt, mit scheinbarer Befriedigung quittiert. Dabei weiß sie genau, dass sie aus dem Rennen ist, klammert sich an das süße Brot der Jugend, macht die eigene Persönlichkeit von Äußerlichkeiten abhängig und wirkt so schon wieder banal und keiner Betrachtung wert.

Plötzlich geschieht etwas Ungewöhnliches: ein junger Mann, tätowiert und mit wildem Lockenkopf, locker auf seinem Sitz ausgestreckt, rülpst laut, gibt der Befriedigung über ein gelungenes Mittagsmahl Ausdruck, erinnert sich förmlich an all die Köstlichkeiten, die im Magen dampfen und dem unternehmungslustigen Körper neue Energiequellen liefern. Dieser scheinbar geringfügige Vorfall gibt jedoch allen Gelegenheit, Gespräche abzubrechen, den starren Blick aus dem Fenster wieder ins Innere schweifen zu lassen, von den Telefonen aufzuschauen. Was für ein Rüpel! Gemurmel macht sich breit, Missfallen wird laut geäußert. Wie genießen sie es, das Neue, die willkommene Abwechslung im Omnibuseinerlei, wie sind sie im tiefsten Innern ihres Herzens dankbar, dass sich am heutigen Tag doch noch etwas ereignet hat. Am besten sollte es morgen in der Zeitung stehen und man sagen kann: ja, ich bin dabei gewesen, habe es mit eigenen Ohren gehört, das Ungeheuerliche, das Blasphemische. Und man könnte die Geschichte ausmalen, von den dreckigen Fingernägeln dieses Individuums erzählen, von den speckigen Hosen und der strähnigen Mähne.

Doch da geschieht schon das Unglaubliche, das Schlimmste, was passieren konnte. Dem ersten Rülpser folgt ein zweiter, viel gewaltigerer und genüsslicherer, und gleich darauf ein erlösendes „AAAh“. Wie ein Künstler, der vor der Menge das Werk seiner Hände enthüllt und es dem allgemeinen Wohlgefallen ausgesetzt weiß. Ein Raunen geht durch die Menge, die Augen weiten sich, alles rutscht unruhig auf den Sitzen hin und her, jemand meint, man müsse den Fahrer benachrichtigen.

Doch schon beginnt der dritte Akt, das Publikum wird wieder ruhig. Und der junge Mann greift langsam und bedächtig in seine Tasche, wie Hamlet auf der Bühne, der die angespannte Erwartung der Zuschauer auf seinem Körper spürt, und deshalb jede seiner Bewegungen bis ins Unerträgliche verlangsamt. Endlich hat er eine überdimensionale Spraydose in der Hand und lässt den Inhalt kurz aber bestimmt in alle Richtungen zischen. Wie herrlich benebelnd macht sich ein Duft von Tannen und Gräsern breit. Oh wie bist du so schön, deutscher Wald! Der gesamte Omnibus wird zur vollbrüstigen Mutter Natur und die lastende Stille ist auf einmal von Vogelgezwitscher erfüllt und die Rehlein scheinen umherzuhüpfen.

Die Demonstration ist gelungen, und noch ehe sich erneute Empörung oder Gelächter breitmachen können, erhebt sich der Hauptdarsteller, steigt aus dem Bus und lässt die Statisten ihr dilettantisches Alltagstheater weiterspielen.

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